Digitale Souveränität – Digitalisierung gestalten?

Veröffentlicht am: 22.02.2019 | Geschrieben von: Tobias Oertel

Ein europäischer Wikipedia-Moment? Eine Couchsurfing-Idee aus Deutschland? Zivilgesellschaftliche, digitale Ideen die wirklich skalieren? Wer das heutzutage als Anspruch formuliert, wird als Träumer abgestempelt. Aber warum eigentlich?

© Sebastian Schütz

Anlässlich des ersten Digital Social Summit haben wir uns entschieden, unsere Sichtweise auf die Digitalisierung im sozialen Sektor zur Diskussion zu stellen. Den ersten Teil findet Ihr hier.

Warum ist es unwahrscheinlich, dass eine globale soziale Innovation aus dem hiesigen Sektor kommt? Ist es nicht absurd, dass wir uns mit weniger zufrieden geben? Wir sind davon überzeugt, dass unsere Zivilgesellschaft viel größer denken und ernsthafte Gestaltungsansprüche in der Digitalisierung formulieren kann.

Digitale Souveränität?

Digitale Souveränität bezeichnet die Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln und Entscheiden im digitalen Raum. Digital souveräne Akteure verfügen im Kontext digitaler Technologien, Dienste und Plattformen über eigene Fähigkeiten zur Gestaltung. Sie sind in der Lage, selbstbestimmt zwischen Angeboten unterschiedlicher Dienstleister zu entscheiden, sie verantwortungsvoll einzusetzen und sie im Bedarfsfall weiterzuentwickeln oder eigene digitale Lösungen zu schaffen. Diese Souveränität auf der Handlungsebene  ist nur dann möglich, wenn sich Organisationen auch im Diskurs über Digitalisierung mündig fühlen.
(weiterlesen dazu bei BITKOM)

Wie genau werden zivilgesellschaftliche Akteure zu digital souveränen Organisationen?


Dass das einfach ist, hat ja niemand gesagt. Trotzdem glauben wir daran, dass es möglich ist, auch und gerade dann wenn die Menschen im Vordergrund der eigenen Arbeit stehen. Digitale Möglichkeiten haben das Potential Herangehensweisen, Systeme und Wirkung von sozialen Initiativen langfristig zu beeinflussen. Damit diese Beeinflussung positiv gestaltend ist, reicht es leider nicht, sich auf gepflegten Social Media-Kanälen oder einer zeitgemäßen Website auszuruhen. Wie können bestehende Technologien für soziale Innovationen genutzt werden? Welche Ideen haben die Kraft, soziale Problemstellungen durch digitale Hilfsmittel langfristig vielleicht sogar zu lösen? Wie entwickle oder erkenne ich diese? Wir fragen uns, welche Bedingungen notwendig sind, um diese Fragen beantworten zu können.

Error 404: Ökosystem für digitale Pioniere und Innovationen – not found

Die Schwierigkeit, neben einer Diskursfähigkeit auch digitale Handlungskompetenzen herzustellen und eine digitale Souveränität des Sektors langfristig zu ermöglichen, ergibt sich zum Teil aus der Herangehensweise.

Es handelt sich bei dem Erstellen eines Ökosystems nicht um einen geradlinigen, planbaren Prozess, sondern um eine Veränderung der Rahmenbedingungen. Aus unterschiedlichen Gründen wird in der Zivilgesellschaft fast ausschließlich in einem strategischen Zweckprogramm gehandelt. Dabei wird in einer klar definierten Herangehensweise ein Ziel definiert, das dann mit gewählten Maßnahmen erreicht werden soll. Diese klassisch westliche Strategielehre läuft in einer Transformationsphase wie der Digitalisierung zu oft ins Leere.

In einem sich stark verändernden Umfeld sind solche strategischen Ansätze Einschränkungen, die den Blick auf die Potentiale verdecken. In “Über die Wirksamkeit” beschreibt Francois Jullien die Stärken eines Kausalsystems im strategischen Denken, welches ohne Zielsetzung und Planung operiert.

“Einerseits ist das Kausalsystem komplex und offen für unendliche Kombination; andererseits ist der Prozess geschlossen und das Ergebnis ist in seinem Ablauf enthalten.” (Über die Wirksamkeit, S.63; Jullien, 1999).

Bei Kausalsystemen geht es um eine transformative Denkweise. Das Bestehende wird aus sich heraus verändert. Es werden Bedingungen für Situationen geschaffen, die mehr Potentiale bieten, aus denen wiederum wieder Situationen entstehen, die mehr Potentiale bieten, bis die Situation selber die gewünschte Wirkung hervorbringt, ohne dass eine weitere Handlung erforderlich ist.

Für den sozialen Sektor heißt das, sich von klar deifinierten Zielsetzungen zu verabschieden und in Potentialräumen denken zu lernen. Wie können wir das gewachsene System so anpassen, dass Situationen entstehen, in denen neue Lösungen möglich werden? Wie können Rahmenbedingungen aussehen, in denen iterative Ansätze gefördert und sich eröffende Möglichkeiten genutzt werden? Wie können wir Kontrolle abgeben und Offenheit kultivieren?

Don't develop a Gesamtkonzept

Auf der Konferenz Digitizing Europe, beschrieb der CEO von Airbus, Tom Enders, den Weg seines Unternehmens zu einer “Data Driven Company” die nicht nur Flugzeuge, sondern auch eine Platform zur Datenanalyse für die eigenen Kunden anbietet. Partnerschaften, so Enders, sind der Kern seiner Digitalisierungsstrategie. Wenn er versuchen würde, die entsprechenden Kompetenzen bei Airbus zu schaffen, bräuchte er noch mindestens zehn Jahre um überhaupt handlungsfähig zu sein. Es geht demzufolge um Geschwindigkeit, Partnerschaften, die entsprechende Kompetenzen mit in den Prozess einbringen und Open Innovation. Man muss sich vom Anspruch eines Gesamtkonzepts lösen, experimentieren und aus den gesammelten Erfahrungen resultierend ein Ökosystem schaffen. 

Doch wie können solche Prozesse und Partnerschaften erfolgreich sein und welche Kompetenzen werden dafür eigentlich benötigt? 

Dr. Sabine Artinger, Bundeskanzleramt vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung beschreibt in ihrem Vortrag über die Fokusgruppe "Bürgerzentrierte Lösung" im Kanzleramt folgende Kompetenzen für interdisziplinäre Arbeit:

1) Gegenseitiger Respekt (Jede*r ist Experte auf dem eigenen Gebiet)
 

2) Komplexe Sachverhalte allgemeinverständlich erklären können
 

3) Fähigkeiten, die Perspektive zu wechseln
 

4) “Disziplinärer Ungehorsam”
 

Wir würden noch ergänzen: 5) Augenhöhe über Hierachieebenen hinweg
Wie kann man diese Kompetenzen erwerben?

Learning by doing.

Nach Frau Dr. Artingers Erfahrung kann man die Kompetenzen nur lernen, wenn man Projekte durchführt. Vorteilhafte Faktoren sind interdisziplinäre Teams, ein aktiver Austausch mit anderen Disziplinen, das gemeinsame Lösen von Problemen mit Fachleuten anderer Disziplinen und eine bewusste Reflexion über die disziplinären Perspektiven und "Brillen".

Als die größten Herausforderungen für erfolgreiche interdisziplinäre Projekte sieht sie existierende Strukturen und Anreizsysteme, zeitlichen Druck, eine Unwissenheit auf beiden Seiten und die tatsache, dass die Umsetzung oft nicht mitgedacht wird.

Wir sehen, um ein funktionierendes Ökosystem für digital-soziale Innovationen zu schaffen, welches (mit einigen Ausnahmen) nicht nur Modellprojekte hervorbringt, sondern nachhaltige Organisationen die Digitalisierung mitgestalten – auch europaweit oder global, haben wir noch viel Arbeit vor uns. Vor dieser größeren Vision dürfen wir aber nicht zurückschrecken. Nirgendwo gibt es so vielversprechende Grundvoraussetzungen in der Zivilgesellschaft um ein solches Ökosystem zu schaffen. Wir müssen unsere Ansprüche formulieren. Wollen wir unsere gemeinsamen Werte auch in einer digitalisierten Gesellschaft vertreten oder verschließen wir uns dem Prozess und seinen Potentialen? Nehmen wir die Herausforderung und auch die Verantwortung an, oder verschlafen wir unsere Zukunft und lassen sie von anderen gestalten?  Es ist an der Zeit für größere Visionen und ein radikal anderes Denken.

Digitalisierung geht nur gemeinsam. Es ist ein experimenteller Lernprozess für alle Akteure. Wir müssen uns endlich zusammen auf den Weg machen. Am besten sofort.

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